Im begnadeten Alter von 100 Jahren ist Professor Eugen Gomringer am 21. August gestorben. Der in Bolivien geborene Schweizer Staatsbürger, der als Weltbürger galt, lebte nicht weniger als 57 Jahre lang in Ostoberfranken. Bamberg, wo sein Leben endete, sei seine Wahlheimat gewesen, meldeten renommierte Medien. Tatsache aber ist, dass seine Wahlheimat Rehau war. Er wohnte lange Zeit im Ortsteil Wurlitz, wo auch seine 1980 geborene Tochter Nora aufwuchs, und mehr als 20 Jahre lang im Kunsthaus Rehau, das einst ein Schulhaus war und dessen Adresse Kirchgasse 4 an seinem 95. Geburtstag ihm zu Ehren umbenannt wurde – in Eugen-Gomringer-Platz 1. Nur sein letztes Lebensjahr verbrachte er in einem Seniorenhaus in Bamberg.
Eines seiner „Gedichte“, die er auch Konstellationen nannte, heißt „Wind“. Es handelt sich um ein Bild, auf dem die vier Buchstaben des Wortes herumwirbeln, als würden sie vom Winde verweht. Auch sein berühmtes „Schweigen“ besteht aus einem einzigen Wort, das allerdings in fünf Zeilen gleich 14-mal auftritt. Nur genau in der Mitte bleibt der Platz für dieses Wort frei, das Gedicht wird dort stumm. Der Betrachter und Leser gelangt vom Schauen zum Meditieren.
Freilich sind nicht alle Texte des Autors so kurz, auch nicht die konkreten. Auf immerhin 19 Zeilen widerlegt ein Druckfehlerteufel die Behauptung, es sei „Kein Fehler im System“, und sogar über acht Zeilen mehr schwingt sich ein Gedicht vom Hängen und Wachsen, vom Treiben und Suchen und Finden. Als Eugen Gomringer bei einer ihm gewidmeten Ausstellung gebeten wurde, diese Art von Gedichten zu „erklären“, erinnerte er sich an die Fünfzigerjahre zurück. An der damals neuen Hochschule für Gestaltung in Ulm war er Sekretär des Rektors Max Bill, eines Pioniers der konkreten bildenden Kunst. Von ebendieser Art der Malerei, die nichts als sich selbst bedeuten und auf diese Weise autonom und rein sein wollte, übernahm er den Begriff „konkret“ für seine neue Poesie, die als verdichtete Sprache den Rückbezug aufs Einzelwort wagte: Das Wort wurde Objekt. Bei einer anderen Gelegenheit erklärte der Professor, dass er als Lyriker „die Texte dünn schleifen und kristalline Formen erstellen“ wolle.
Dass Gomringer auch ganz anders konnte, hat er durch viele Sonette bewiesen, 100 Stück aus jüngerer Zeit, darunter „Rehauer Gedichte“, sind 2020 in Buchform erschienen. Dazu sagte der Autor, er verstehe seine jambischen 14-Zeiler durchaus als Fortsetzung des konkreten und konstellativen Schreibens. Dass das eine vom andern gar nicht so weit entfernt ist, macht ein Gedicht deutlich, das den Jahreszeiten gewidmet ist und mit dem Frühling beginnt: „Immer wieder gelingt es ...“
Er war in Ostoberfranken eine Institution und zuletzt eine lebende Legende und ein Phänomen dazu. Selbst als er mehr als 90 Jahre hinter sich hatte, wäre es unangemessen gewesen, ihn wohlwollend „rüstig“ nennen. Bei Veranstaltungen des Instituts für konstruktive Kunst und konkrete Poesie (IKKP) im Kunsthaus Rehau ging ihm, immer noch, alles leicht, locker und humorvoll von der Hand und von den Lippen. Fachmännisch und launig zugleich parlierte er mit Künstlern, Künstlerinnen und Publikum, wenn nötig auch auf Englisch, Spanisch oder Französisch. Das Institut, in dessen Leitung ihn Ehefrau Nortrud – sie starb im Dezember 2020 – unterstützte, war die letzte wichtige Station seines Wirkens. Dass das Haus als Ort der Kunst erhalten bleibt, ist einem Vertrag zu verdanken, den die Stadt mit dem neu gegründeten Kunstverein Rehau schloss. Seit dem 1. Juli, als das Kunsthaus 25 Jahre alt wurde, liegt in Buchform eine Chronik des Hauses über „die Ära Gomringer und wie es weitergeht“ vor.
Geboren wurde Gomringer am 20. Januar 1925 in Bolivien als Sohn einer einheimischen Mutter und eines Schweizer Vaters. 1967 holte ihn Philip Rosenthal mit den Worten „Einen wie Sie könnte ich brauchen“ als Kulturbeauftragten seines Unternehmens nach Selb. Die Aufgabe, international bekannte Künstler zur Mitarbeit bei Rosenthal zu gewinnen, meisterte Gomringer mit riesigem Erfolg. Für Rosenthal arbeiteten, neben vielen anderen, Marc Chagall und Günther Uecker, Otmar Alt und Andy Warhol, Björn Wiinblad und Marcello Morandini. Als Gomringer 1985 ausschied, hatte er nebenbei bereits acht Jahre lang – und danach fünf weitere Jahre – eine Professur für ästhetische Theorie an der Kunstakademie Düsseldorf inne.
Schlagzeilen machte er, ohne eigenes Zutun, noch einmal im Jahr 2018, als Studentinnen seinem konkreten Gedicht „Avenidas“ unterstellten, frauenfeindlich und diskriminierend zu sein, und der Text deshalb von der Fassade einer Berliner Hochschule für Sozialarbeit entfernt wurde. Der Vorgang stieß auf viel Unverständnis und löste einen Publicity- und Popularitätsschub für den Schriftsteller aus. Seitdem kennt man ihn in breitesten Bevölkerungskreisen, und sein „Avenidas“ kann man auf der Fassade des Stadtmuseums am Maxplatz mitten in Rehau bewundern.
Auch wenn er kein gebürtiger, sondern ein zugereister Oberfranke war: Mehr Zeit hat nur ein Berühmter in der Region verbracht, nämlich der Romanautor Jean Paul, aber das ist lang her, er wurde 1763 in Wunsiedel geboren und starb 62 Jahre später in Bayreuth.
Ralf Sziegoleit